Erste Cyborgs auf der Weide

Werden wir bald alle zu Cyborgs? Wenn es nach Biohacker Tim Cannon geht, ist das überhaupt keine Frage, sondern lediglich eine Frage der Zeit.

Cannon ist Gründer der Unternehmen Grindhouse Wetware und Livestock Labs und will, dass wir unseren Fitnessarmbändern und intelligenten Uhren schon bald adieu sagen und uns ihre Sensoren stattdessen unter die Haut implantieren lassen. Doch bevor sich Cannon an den Menschen wagt, testet er seine Sensoren erst einmal am Testobjekt Milchkuh.

Die ersten Cyborgs auf der Weide

Äußerlich unterscheiden sich die drei Milchkühe auf der Weide im US-Bundesstaat Utah nicht vom Rest der Herde, doch die drei haben es im wahrsten Sinne des Wortes in sich: Sie tragen den von Cannon entwickelten Sensor EmbediVet direkt unter der Haut und zählen damit zu den ersten Cyborgs unter den Nutztieren. Der Sensor ist nicht viel größer als eine Euro-Münze und registriert Bewegungen und wichtige Körperfunktionen der Tiere in Echtzeit. Die gesammelten Daten schickt er anschließend an einen Cloud-Server, wo sie eine künstliche Intelligenz trainieren.

Investoren sind noch skeptisch

EmbediVet ist eine Adaption des Vorgängers Circadia, den sich Cannon 2013 zu Testzwecken in seinen eigenen Arm implantieren ließ. Denn eigentlich träumt der Softwareentwickler und bekennende Transhumanist von einer Verschmelzung zwischen Mensch und Maschine.

Sein Selbstversuch hat zwar die Machbarkeit seiner Idee bestätigt – der Sensor maß kontinuierlich Cannons Körpertemperatur, zeichnete sämtliche Daten auf und ein Algorithmus bewertete seinen Gesundheitszustand – die Euphorie blieb aber, zum Leidwesen von Cannon, auf die Biohacker-Szene begrenzt.

Weder Investoren noch eine größere Anzahl seiner Artgenossen konnte die Idee wirklich begeistern. Seinen Traum vom Cyborg Mensch muss der Pionier deshalb wohl noch einige Zeit auf Eis legen.

Cannon setzt auf die Landwirtschaft

Trotzdem bleibt Cannon gelassen, denn aktuell setzt er erfolgreich auf das boomende Geschäft mit der Landwirtschaft 4.0. Gemeinsam mit dem australischen Tech-Inkubator Cicada Innovations, der die Zukunft von Cannons Sensortechnologie vor allem in der Landwirtschaft sieht, gründete er das Startup Livestock Labs und seinen Wohnsitz hat er kurzerhand nach Down Under verlegt.

Die Frühphasenfinanzierung der australischen Investoren nutzte Cannon um den sperrigen Circadia, der die Größe eines Staples Spielkarten hat, in den sehr viel handlicheren EmbediVet umzubauen. Mit Hilfe der RFID-Technologie identifiziert und lokalisiert EmbediVet Objekte und Lebewesen automatisch und berührungslos mittels Radiowellen.

Zudem kann der neue Sensor bereits sehr viel mehr als sein Vorgänger Circadia: Er verfügt über einen ARM Prozessor, einen Herzschlagmonitor und ein Pulsoximeter und erfasst damit Herzschlag, Sauerstoffsättigung des Blutes, Körpertemperatur, Kaufrequenz sowie das gesamte Bewegungsprofil einer jeden Kuh.

KI soll Krankheiten im Frühstadium erkennen

Die auf einer Cloud-Plattform arbeitende künstliche Intelligenz (KI) erlernt aus den von EmbediVet gesammelten Daten das Verhalten gesunder Tiere und soll dann aus Verhaltensabweichungen frühzeitig auf sich anbahnende Krankheiten schließen. Über eine Smartphone-App werden sämtliche Informationen an den Landwirt geschickt, so dass dieser sich ausschließlich seinen Problemtieren widmen muss.

Universitäten in USA und Australien sind dabei

Neben der Utah State University in den USA arbeitet Livestock Labs auch mit der Charles Sturt University und der University of New England in Australien zusammen. In beiden Universitäten wie auch in einigen nicht-kommerziell arbeitenden Farmen wurden bereits Cyborgs nach dem Vorbild in Utah kreiert. Und weil der smarte Algorithmus mit wachsender Datenmenge immer schlauer wird, soll EmbediVet, sofern er sich bewährt, schon bald völlig autonom riesige Herden überwachen.

Verbreitung eine Frage des Geldes

Landwirten will Cannon damit nicht nur sehr viel Arbeit, sondern auch eine ganze Menge Geld sparen. Vor allem Australien, dessen rund 25 Millionen Kühe sich auf riesigen Weideflächen verteilen, ist für die Fernüberwachung mittels implantierbarer Sensoren prädestiniert, doch auch in anderen Ländern ist die zunehmende Automatisierung in der Landwirtschaft ein immer wichtigeres Thema.

Zwar sind in der Tierzucht nicht-implantierbare Sensoren zur Überwachung bereits im Einsatz, doch Cannon sieht trotzdem gute Chancen für seinen EmbediVet. Schließlich hätten Sensoren in Halsbändern wie beispielsweise Connectera, das Googles Open-Source Bibliothek TensorFlow nutzt, den Nachteil, dass sie sperrig seien und die Bewegungsfreiheit der Tiere massiv einschränkten. EmbediVet müsse zwar in Narkose unter die Haut implantiert werden, sei aber kaum größer als eine Euro-Münze und störe deshalb weit weniger als ein solch sperriges Halsband, meint Cannon.

Hinzu käme, Messwerte die außerhalb des Körpers erfasst werden seien weniger verläßlich als solche, die direkt im Körper gemessen werden – dies sei ein weiterer Pluspunkt für EmbediVet. Sollte der Sensor in Kühen wie erhofft funktionieren und den Tieren keinen Schaden zufügen, ist der großflächige Einsatz geplant. Ob sich der Sensor in der Nutztierzucht verbreiten wird, ist aber wohl auch eine Frage des Preises, denn die Margen in der Milch- und Fleischproduktion sind heute nicht mehr allzu üppig. Aktuell kosten die Teile von EmbediVet um die 20 US-Dollar, sagt Cannon, beim Verkaufspreis ist er aber noch unschlüssig.

Finales Ziel bleibt der Mensch

Auch wenn Cannon den Fokus gegenwärtig auf die Landwirtschaft legt, sein primäres Ziel hat er deswegen nicht aus den Augen verloren: Bewährt sich das Gerät in Kühen, will er einen erneuten Anlauf wagen und endlich auch Investoren und potenziellen Trägern seine Technologie schmackhaft machen.

Die Mehrheit unserer Spezies wird wohl noch eine Weile brauchen, bis sie sich an die Idee gewöhnt, ihre lieb gewonnenen Smartphones und Fitness-Uhren so einfach gegen einen Sensor unter der Haut einzutauschen. Doch für die Gemeinde der Technikfreaks und Transhumanisten sind implantierbare Sensoren nicht viel mehr als der nächste logische Schritt zu einer Verschmelzung von Mensch und Maschine und damit zu einer zunehmend von Informationstechnologie beherrschten Zukunft.

Tatsächlich schreitet diese Technologie immer weiter fort und mit dem Internet der Dinge, das mit der Einführung von 5G Wirklichkeit werden dürfte, ist die totale Vernetzung keine Utopie mehr. Dann könnte auch die Vernetzung von Menschen, die mit implantierbaren RFID-Chips kein größeres Problem darstellt, Einzug halten. Doch wollen wir uns wirklich wie Objekte vernetzen und uns auf diese Weise Tag und Nacht überwachen lassen? Was bringt eine solche Vernetzung und vor allem wem bringt sie etwas? Wer diese Idee gut findet, der braucht wohl nur etwas abzuwarten, wem das aber nicht gefällt, der sollte sich spätestes jetzt aktiv in diese Diskussionen einklinken!

Don't be shellfish...Share on Google+Share on LinkedInTweet about this on TwitterEmail this to someoneShare on Facebook