Die Natur ist ein grandioser Baumeister – ihre Baupläne der menschlichen Technik haushoch überlegen. Kein noch so innovativer Elektromotor kann es mit unserer Skelettmuskulatur aufnehmen, die unermüdlich, lautlos, schnell und dabei vollkommen wartungsfrei eine Vielzahl von Bewegungen ausführt. Noch, denn elektroaktive Kunststoffe – so genannte EAPs können das Prinzip Muskel imitieren.
Im Labor haben sich elektroaktive Polymere (EAP) schon lange bewährt, nun sollen die künstlichen Muskeln durch innovative Produktionsprozesse auch massentauglich werden und Optik, Medizintechnik, Prothetik und vor allem die Robotik revolutionieren.
Die zu den EAP zählenden „Dielektrischen Elastomer Aktoren“ (DEA) können ganz ähnlich wie Muskeln, Formveränderungen in Bewegung umwandeln, aber auch die Umkehrung ist möglich. Die Initialzündung der EAP-Forschung geht auf den deutschen Physiker Conrad Röntgen zurück, der 1880 entdeckte, dass sich ein Band aus Kautschuk beim Anlegen einer elektrischen Spannung ausdehnt und beim Entladen wieder in seine Ausgangslage zurückkehrt. Im Jahr 2000 ging der Nobelpreis für die Entdeckung erster leitfähiger Polymer an die US-Chemiker Alan J. Heeger und Alan MacDiarmid sowie den Japaner Hideki Shirakawa.
Sarkomer versus Plattenkondensator
Weshalb der in der Fachsprache als Aktor bezeichnete künstliche Muskel mit dem Skelettmuskel verglichen wird ist schnell erklärt: Die einzelne DEA-Einheit ist zwar nicht viel mehr als ein einfacher Plattenkondensator mit zwei Elektroden und einem dazwischen liegenden Dielektrikum, ähnelt in ihrer Funktionsweise aber der Grundeinheit (Sarkomer) des Muskels. Durch einen Nervenimpuls und die nachfolgende Ausschüttung von Kalzium-Ionen wird im Muskel ein komplexer biologischer Prozess in Gang gesetzt an dessen Ende die Kontraktion steht. Auch wenn die Formveränderung einer DEA-Einheit – die durch die Anziehung der beiden entgegengesetzt geladenen Elektroden des Dielektrikums initiiert wird – sehr viel einfacher ist, das Endergebnis ist vergleichbar.
Strom sorgt bei EAP für Verformung
Damit sich das Dielektrikum beim Anlegen einer Spannung verformt muss es beidseitig mit einem leitfähigen Material wie Grafitstaub beschichtet sein. Die daraus resultierenden Elektroden werden gegensätzlich aufgeladen, Plus- und Minuspol ziehen sich an und das nicht komprimierbare Dielektrikum wird durch die beidseitige Krafteinwirkung deformiert. Während sich der Abstand zwischen den Elektroden verkürzt, vergrößert sich die Fläche des Dielektrikums.
Nach dem Entladen kehrt die elastisch verformte DEA-Zelle wieder in ihren Ausgangszustand zurück – eine Veränderung, die sich zur Erzeugung von Bewegung nutzen lässt. Die Stärke der Ausdehnung ist durch die angelegte Spannung zwar steuerbar, für größere Bewegungen sind aber recht hohe Spannungen nötig. Die Wissenschaftler arbeiten deshalb mit ganzen Stapeln von Polymerschichten oder nutzen sie in Form von Rollen. Die damit erzeugbaren Bewegungen sollen ähnlich fließend und wartungsfrei sein wie die des natürlichen Vorbildes – unseres Muskels.
Wacker Chemie erzielt Durchbruch mit EAP
Ganz vorne an der Front der künstlichen Muskeln kämpft auch Wacker Chemie, das jüngst einen Erfolg bei der großtechnischen Herstellung von EAP vermelden konnte. Im Juli zeichnete der Münchner Chemiekonzern Dr. Andreas Köllnberger für die Entwicklung eines Produktionsprozesses zur Herstellung hauchdünner dielektrischer Präzisionsfolien auf Siliconbasis mit dem Alexander-Wacker-Innovationspreis 2015 aus. Die Folien – meint Florian Degenhart von Wacker Corporate Communications – eignen sich nicht nur für zahlreiche Anwendungen in Elektronik, Robotik, Sensorik und Medizintechnik, sie ermöglichen auch endlich die Herstellung größerer Stückzahlen.
Warum Wacker auf Silicone setzt, erklärt Degenhart so: Die Elektroden der EAP-basierten Aktoren müssten höchstelastisch und auch in verformtem Zustand noch voll leitfähig sein, was eben für Silicon zuträfe. Hinzu kommt, Silicon ist hitzebeständig, chemisch inert und außerdem biokompatibel. Die Herstellung der Folien als Rollenware unter Reinraumbedingungen soll die Massenfertigung von EAP-Bauteilen ermöglichen und künstlichen Muskeln in vielen Bereichen zum Durchbruch verhelfen. Da sich die Folien laut Wacker in großer Anzahl übereinander stapeln, elektrisch parallel schalten und in beliebiger Form anordnen lassen, sollen vielfältige Bewegungsmuster sowie auch größere Bewegungen bis zu einigen Zentimetern möglich sein.
iPod – Vorreiter mit EAP
Mit dem iPod Touch 4 G hat die Firma Apple eines der ersten Geräte mit einem künstlichen Muskel auf den Markt gebracht. Das zwischen Akku und Gehäuse des iPods implantierte Material sorgt für ein ganz neues Spielerlebnis: Zum Hören und Sehen soll nun endlich auch das Fühlen kommen. Wie zukunftsträchtig die Technologie ist, zeigt die Nachfrage nach dem Entwickler der künstlichen Muskeln – der in Kalifornien ansässigen Artificial Muscle. 2010 wurde das Startup von Covestro (vormals: Bayer Material Science) übernommen, seit kurzem wird die Technologie von Parker Hannifin, einem Unternehmen mit 13 Mrd. USD Jahresumsatz, vorangetrieben.
Vorbild Auge
Auch die Schweizer sind immer für eine Innovation gut. Manuel Aschwanden, David Niederer und Mark Ventura haben die Grundlagen für ihr Unternehmen Optotune an der ETH Zürich entwickelt. Der Name ist Programm, das Schlüsselprodukt ist ein mit einer elastischen Polymerlinse bestücktes Objektiv, das ganz ohne herkömmliche Linsen und eine komplexe Mechanik auskommt. Das EAP-Objektiv ähnelt dem menschlichen Auge, lässt sich mittels schwacher elektrischer Stimuli verformen und verändert so seine Brennweite. Wenn es nach den Gründern geht, sollen ihre künstlichen Augen nicht nur in Handykameras Einsatz finden, sondern bald auch die Überwachung von industriellen Prozessen – beispielsweise in der Qualitätskontrolle – übernehmen.
Zukünftige Anwendungen für EAP
Relais, Schalter und Ventile auf Basis dielektrischer Elastomeraktoren könnten bereits in den nächsten zwei bis fünf Jahre marktreif sein, schätzen Experten. Vor allem die Automobilindustrie hofft auf den baldigen Einsatz von EAP-Aktoren, die elektrische Stellmotoren ersetzen sollen. Etwas futuristischer sind verformbare Touchscreens, die Blinde mit den Händen lesen können oder Luftschiffe, die sich wie Fische bewegen. Auch in der Medizin und in der Prothetik will man künftig von künstlichen Muskeln profitieren.
Ganz neue Möglichkeiten könnten EAP-Aktoren der Robotik bieten, denn durch die Nachbildung komplexer Bewegungsabläufe könnten Roboter schon bald sehr viel menschenähnlicher werden. Die dänische Danfoss Polypower, die anstelle von Polymerschichten gerollte Folien nutzt, will nicht nur Energie in Bewegung umwandeln, sondern auch den umgekehrten Prozess nutzen. Macht die Idee Schule, werden wir in absehbarer Zukunft unsere Smartphones und iPods vielleicht mittels intelligenter Hüllen ganz einfach beim Gegen aufladen. Willkommen in der Zukunft!
So funktioniert die Muskelkontraktion
Die Muskelkontraktion wird im Sarkomer durch einen Nervenimpuls und die nachfolgende Ausschüttung von Calcium-Ionen eingeleitet. Bei der eigentlichen Kontraktion interagieren verschiedene Proteine, die durch Konformationsänderungen zur Muskelverkürzung und damit zur Kontraktion führen. Das Calcium aktiviert die ATPase-Aktivität des Myosinköpfchens, wobei ATP gespalten und gleichzeitig durch Wechselwirkung mit Troponin die Bindung von Myosin an Aktin ermöglicht wird. Die nachfolgende Freisetzung von ADP und Phosphat wandelt die Verspannung des Myosins in Bewegungsenergie um. Das Myosinköpfchen knickt dabei ab, die Aktinfilamente werden von beiden Seiten zur Sarkomermitte gezogen – die Sarkomere verkürzen sich und der gesamte Muskel kontrahiert.