Macht uns Hochleistungsgetreide krank?

Reizdarm, Rheuma, Multiple Sklerose: Abwehrstoffe gegen Fressfeinde im Getreidekorn – die in Hochleistungsgetreide in größeren Mengen vorkommen – hungern nicht nur Parasiten aus. Sie könnten auch chronischen Entzündungen aller Art Vorschub leisten.

Weizenähren

Weizenkörner enthalten Gluten und ATIs. Copyright: Screenshot YouTube

Beschwerden nach dem Genuss getreidehaltiger Produkte sind keine Seltenheit und sie nehmen offensichtlich zu, darauf weist zumindest die steigende Nachfrage nach glutenfreien Lebensmitteln hin. Während aktuelle Schätzungen von fünf bis sieben Prozent Betroffenen ausgehen, sprechen vereinzelte Studien bereits von bis zu 25 Prozent, die Dunkelziffer könnte noch weit höher liegen, so einige Gastroenterologen. Hauptverdächtiger ist zwar das Gluten, neuere Forschungen zeigen nun aber, das Klebereiweiß dürfte kein Einzeltäter sein.

Freispruch für Gluten?

Wer nach einer Getreidemahlzeit über Blähungen, Darmkrämpfe oder Durchfälle klagt, der ist in den seltensten Fällen von einer Zöliakie betroffen. Kaum mehr als ein Prozent sind in Europa davon betroffen, meint Harald Vogelsang, Leiter der Spezialambulanz für Zöliakie am Wiener AKH. Unspezifische Darmbeschwerden gehen fast immer auf eine Weizensensitivität zurück und bis vor kurzem hieß der alleinige Übeltäter für die Unverträglichkeit Gluten. Doch das Klebereiweiß könnte zu Unrecht am Pranger stehen.

Detlef Schuppan ist Gastroenterologe und Leiter der Zöliakie-Ambulanz am Universitätsklinikum in Mainz. Der Mediziner ist überzeugt, den wahren Übeltäter aufgespürt zu haben. Im Getreidekorn stießen Schuppan und sein Team auf eine Proteinklasse, die nicht nur für die unspezifischen Symptome der Getreidesensitivität verantwortlich sein könnte. Selbst schwere Autoimmunstörungen wie Rheuma und Multiple Sklerose bringt der Magen-Darm-Spezialist mit einer erhöhten Konzentration dieser Proteine in unserer Ernährung in Verbindung.

Der neue Verdächtige – ATI in Hochleistungsgetreide

Amylase-Trypsin-Inhibitoren – kurz ATI – haben die Forscher im Visier. Die natürlichen Parasitenabwehrstoffe sind in glutenhaltigen Getreiden für die Abwehr von Fressfeinden aller Art zuständig. Doch das scheint nicht alles zu sein, in Tiermodellen waren ATI an entzündlichen Veränderungen innerhalb wie außerhalb des Darms beteiligt. Auch wenn Tierstudien in den seltensten Fällen auf Menschen übertragbar sind, könnte ein Quäntchen Wahrheit dahinter stecken. Denn eine verminderte Zufuhr von ATI mit der Ernährung führte bei Patienten mit manifestierten Autoimmunstörungen zu einer signifikanten Besserung der Symptome.

Chaos im angeborenen Immunsystem

Die natürliche Funktion der ATI ist bekannt, durch Hemmung der Verdauungsenzyme Amylase (die Stärke spaltet) und Trypsin (das Protein zerlegt) schützen sie das Getreidekorn vor Parasiten. Leider scheinen ATI aber wohl nicht nur unerwünschte Fressfeinde auszuhungern, sondern bei empfindlichen Menschen das angeborene Immunsystem in helle Aufregung zu versetzen. Gelangen größere Mengen von ATI mit der Nahrung in den Darm und werden dort von einem bestimmten Rezeptor, dem Toll-like-Rezeptor 4, als Eindringlinge erkannt, setzen sich die Abwehrtruppen des Immunsystems (Makrophagen, dendritischen Zellen, Monozyten) in Bewegung. Im Rahmen dieser Immunantwort kommt es zur Ausschüttung spezieller Botenstoffe, die Entzündungsprozesse initiieren oder anheizen können.

Gefahr Hochleistungsweizen

Die zunehmende Weizensensitivität ist mehr als ein Trend, seriöse Wissenschaftler haben sogar eine Erklärung für dieses Phänomen – die neuen Hochleistungsgetreide. Vor allem Weizensorten mit deutlich größeren Körnern enthalten zwangsläufig mehr Gluten und folglich auch mehr ATI. Ein Vergleich mit alten Weizensorten zeigt: neue Züchtungen können bis zu 4/5 mehr ATI enthalten. Aus landwirtschaftlicher Sicht ist dies klar erwünscht, denn resistentere Getreide versprechen auch höhere Erträge. Die Wissenschaft ist bisher noch geteilter Meinung: Während einige Forscher die hohen ATI-Konzentrationen als wenig dramatisch ansehen, warnen andere davor. Schuppan sieht die Entwicklung kritisch, vor allem bei Menschen mit chronischen Entzündungen – immerhin 5 % bis 10 % der Bevölkerung – könnten ATI in größeren Mengen die Symptomatik verschlimmern.

Problem Zweckentfremdung

Meinolf Lindauer, Leiter des Instituts für Sicherheit und Qualität bei Getreide am Max Rubner-Institut im deutschen Detmold, hat eine andere Erklärung parat: die positiven physikalischen Eigenschaften des Glutens und seine kostengünstige und massenhafte Verfügbarkeit hätten zur Zweckentfremdung in der Lebensmittelindustrie geführt. Heute hält Gluten nicht nur Teige in Form, sondern auch Pudding, Würste und vieles mehr, sagt Lindauer. Da es als Nebenprodukt der Stärkeherstellung in großen Mengen anfällt, wird es zudem zahlreichen „Light“-Produkten – vom Quark über den Joghurt bis zum Eiweißbrot – zugesetzt. Damit nehmen wir durch die industrielle Nahrung heute sehr viel mehr an Gluten und ATI auf, als vor der Konsum von industriell gefertigten Produkten.

Mehr Forschung nötig

Schuppan indes ist überzeugt, mit ATI den Hauptverdächtigen für die Getreideunverträglichkeit gefunden zu haben. Als nächstes will der Mediziner mit seinem Team die Funktion der ATI im Menschen im Detail untersuchen und ein Verfahren zum Nachweis des Proteins im Serum etablieren. Vor allem auf die drängende Frage, wie ATI im Menschen entzündliche Erkrankungen des Darms, der Haut und des zentralen Nervensystems beeinflussen können, wollen Schuppan und sein Team bald eine Antwort finden. Für Patienten mit einer Autoimmunkrankheit dürfte die Antwort auf die Frage, ob eine gluten- oder ATI-freie Ernährung ihre Symptome verringern könnte, von ganz besonderem Interesse sein. Bis dahin sollten Empfindliche auf ihren Bauch hören!

Zöliakie: selten, aber schwerwiegend
Die Zöliakie ist ein schwerwiegendes – wenn auch eher seltenes – Krankheitsbild, das sich im Prinzip auf zwei Prozesse zurückführen lässt. Gluten-Proteine (Gliadine) werden beim Durchtritt durch die Epithelzellschicht der Darmschleimhaut von der körpereigenen Gewebstransglutaminase attackiert, nach Freisetzung entzündungsfördernder Botenstoffe wird eine lokale Immunreaktion initiiert. Darüber hinaus entstehen Gliadin-Antikörper und Autoantikörper gegen Gewebstransglutaminase. Im Rahmen des programmierten Zelltodes gehen Darmschleimhautzellen zugrunde. Der Verlust an Darmzotten führt zu einer abnehmenden Resorptionsfläche im Darm, so dass Mangelerkrankungen entstehen können.

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